„Ich bitte euch alle: Betet für die Ukraine…“ ruft eine junge Frau der ukrainischen Gemeinde München in die Fernsehkamera. In einem Beitrag für das Morgenmagazin erzählt sie, dass sie Angehörige, Freundinnen und Freunde in der Ukraine hat und voller Sorge um sie ist. Sie fühlt mit. Sie leidet mit. Sie möchte aber auch nicht resignieren oder gar aufgeben: „Ich bitte euch alle: Betet für die Ukraine…“
Aber ist das nicht naiv? Beten!? Bringt das was?
„Not lehrt beten, aber sie lehrt auch denken.“ so der bekannte Satz des deutschen Schriftstellers Theodor Fontane.
Ja, Not rüttelt wach. Uns werden die Augen geöffnet. Wir kommen ins Nachdenken. Das Thema Krieg und Frieden geht es uns an die Nieren. Es geht um unser Leben und unser Menschsein. Die Nachrichten aus der Ukraine reißen nicht nur mich heraus aus meiner Sattheit, mit der ich es mir gemütlich eingerichtet habe. Mein Tun und Denken ist jetzt neu herausgefordert. Ich bin gefragt in diesen Tagen. Auch durch den Aufruf der jungen Frau im Fernsehen.
Beten bedeutet mir sehr viel. Beten ist zunächst Solidarität. Durch das Beten lasse ich mich von dem Leid der Menschen in der Ukraine anrühren. Ich bin zwar relativ weit von ihnen entfernt, aber innerlich setzte ich mich - durch das Gebet verbunden - an die Seite der Menschen, die sich z.B. in Kiew in Luftschutzbunker geflüchtet haben und unmittelbar bedroht sind.
Beten ist noch mehr als Mitmenschlichkeit. Es ist auch eine Form des Protests gegen den Rückschritt in eine verkehrte Welt, in der wir gestern nach dem Befehl Putins aufgewacht sind. Ich mag meine Stimme erheben gegen Gewalt und Unmenschlichkeit und spüre beim Beten eine tiefe lebendige Sehnsucht nach Frieden.
„Ich bitte euch alle betet für die Ukraine…“ Das ist nicht naiv und wendet sich gegen Resignation oder Zynismus nach dem Motto „Da kann man eh nichts machen“. Die Willkür der Machthaber wird nicht das letzte Wort haben. Das hat unser Gott des Lebens und des Friedens, der die Welt in Händen hält. Auch in diesen Tagen.
Durch das Beten komme und bleibe ich in Kontakt mit der Kraft der Liebe und der Vision des Friedens. Gerade jetzt in diesen Tagen. Ich komme in Beziehung zu den Menschen in der Ukraine und zu dem Gott, der uns in Jesus Christus gezeigt hat, dass er Liebe ist und uns zum Frieden bewegt.
„Ich bitte euch alle betet für die Ukraine…“. Nicht nur im Sonntagsgottesdienst werden wir gemeinsam beten. Heute morgen habe ich es für mich getan und für die Menschen in der Ukraine. Es schafft Kraft, Verbundenheit und Klarheit.
Beten lässt mich neu nachdenken und ist nicht naiv, sondern stärkt den Frieden. Den inneren und äußeren Frieden, von dem wir alle leben.
Pfarrer Siegfried Martin